PHILIPP BURGER - Grenzland

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VÖ: 01.12.2023
Bandinfo: PHILIPP BURGER
Genre: Deutschrock
Label: Rookies & Kings
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Lineup  |  Trackliste

Nun ist es da und vollbracht: das zweite PHILIPP-BURGER-Soloalbum "Grenzland". Nachfolgend auf die achtzigminütige Offenbarung "Kontrollierte Anarchie" und im Duett mit seiner grandiosen Autobiographie "Freiheit mit Narben – mein Weg von rechts nach überall", wagt der zweite musikalische Alleingang des FREI.WILD-Frontmanns den Sprung über die selbst gelegte Messlatte. Nach zwei Werken, die bereits auf alle Fragen eine Antwort haben, liegt eben jene Latte ausgesprochen hoch, das leuchtet ein. Wohin geht also die Reise ins "Grenzland" und kann sie den Schulterschluss zum selbst geschaffenen Fundament meistern?

Mal ganz der Zimmermann…

Vorweg sei erwähnt, dass der Albumtitel gleich mehrere Interpretationen erlaubt: als Anspielung an Burgers grenzständige Heimat Südtirol, als Metapher für die persönliche Belastungsgrenze (vgl. den gleichnamigen Titelsong) und nicht zuletzt den signifikant stärker ausgelebten musikalischen Spieltrieb.

Fernab der Überraschungen, die "Grenzland" in petto hat, bleibt der Zimmermann zunächst ganz bodenständig bei seinem Fachwerk und liefert eine Reihe typischer Songs, die nahtlos in die Fußstapfen von "Kontrollierte Anarchie" eintreten: harte Rocker mit großer FREI.WILD-Schnittmenge auf der einen und akustische Songs mit einem Faible für süße Melodien auf der anderen Seite. In diesem vertrauten Milieu sind es besonders die harten und schnellen Stücke, die sich mit lässig geschwungenem Ska-Punk-Tanzbein ("Weckt die Punks, weckt die Skins", "Wichser gibt es überall") oder metallischer Härte ("Meine DNA") ins Gedächtnis rocken und als ausgesprochen zeitstabil erweisen.

Auch die akustische Fraktion legt ein gutes Gespür für nachhallende Melodien und ein angemessenes Maß an Emotionalität an den Tag. Mit "Hier geht keiner ohne Narben raus", "Erzähle mir von deinem Leben", "Zwischen allen Extremen" (stampfend wie ein Zug und mit 'nem lässigen Solo) und "Verloren in zwei Welten" kristallisieren sich gleich vier Stücke heraus, die mit jedem Lauf reifen und als starke Grower vom Platz gehen.

…mal völlig unschubladisierbar

Und dann gibt es noch die bereits angerissenen Überraschungen, die an unkontrollierte bis entfesselte Anarchie denken lassen: dass sich "Was wäre ich ohne Gangster?" und "Nur dir alleine, dir alleine" ungeniert in den Pop hineinwagen und die erstgenannte Nummer saitenmäßig an Farin Urlaub erinnert […darüber wird er sich freuen!], ist noch bei Weitem das kleinste Easteregg. Denn als ich zum ersten Mal den frivolen Sittenfrevel "Mandy hat Doppel D" mit dieser saulustigen Blasmusik-Untermalung im Ohr hatte, musste ich so derbe ablachen, dass ich vor Wonne beinahe meinen treuen Kommunikator an die Wand gepfeffert hätte. Aber auch, wenn es in dem Song darum geht, dass besagte Mandy eben nicht flach ist: der Witz dahinter so platt wie die Flunder unter der Dampfwalze und so herrlich aus der Zeit gefallen, dass es selbst für mich als altgedientem Minister für Kalauer, Flachwitze und Zoten ein hartes (aber keineswegs unverdauliches) Brot ist. Der Gag mag nicht bei jedem zünden, aber es ist schön, dass der Herr Burger offenbar noch nicht zu alt für den guten alten Niveaulimbo geworden ist.

Doch das war noch nicht alles, denn zu gute Letzt haut "Bauer sucht Frau"; "Bauer sein ist geil" Fass den Boden aus: Mann, Mann, Mann…da meidet man jahrzehntelang den Schlager wie der Teufel das Weihwasser und dann kommt der Burger mit sowas um die Ecke. Auch hier musste ich mich beim Erstkontakt spontan wegpissen wie schon lange nicht mehr, doch war der wohl genreflexibelste Song der Platte zugleich der anspruchsvollste. Auf der einen Seite der authentische Text über Philipps jüngste Leidenschaft, die auch im Hinblick auf die Reichweite seiner Musik zum Nachdenken anregen kann (jetzt mal Hand aufs Herz: wer kauft alles seinen Brotbelag beim Discounter und supportet stillschweigend den großindustriellen Moloch?), auf der anderen Seite die eingängigen Melodien und on top die treffsicheren Akzente mit Dialekt und Akkordeon. Passt wie die Faust aufs Auge und bleibt hart im Gedächtnis, aber dieser gnadenlose Schlagerbeat bleibt für den indoktrinierten Rock- und Metal-Ultra eine Herausforderung. Dieser Beat will nicht mein Beat sein (dieser Beat, er mag mich nicht, mag mich nicht), aber wen wunderts, wenn man das Buch gelesen hat und Philipps musikalische Ungebundenheit kennt?

"Grenzland" – wenn der Name Programm ist

Man darf insofern mit Fug und Recht behaupten, dass Philipp Burgers zweites Soloalbum in jeder Hinsicht eine Reise ins "Grenzland" geworden ist. Die großen Geschichten mögen mit "Kontrollierte Anarchie" und "Freiheit mit Narben" hinreichend erzählt sein, aber da sich nun im Umkehrschluss die Texte ein Stück mehr Freiheit herausnehmen können, wird auch die Musik in einem Maße vielseitiger, das zwischen den Extremen "erfrischend" und "erdrückend" keine Grenzen kennt. So fuhr ich die ganze Zeit Achterbahn, brauchte mindestens zehn Durchgänge und ein GORGOROTH-Konzert, um dieses Album zu verdauen. Zu verdauen und zu dem Schluss zu kommen, dass "Grenzland" auf der einen Seite mindestens so abwechslungsreich wie anspruchsvoll, auf der anderen Seite jedoch seinem Vorgänger gar nicht so unähnlich ist, wenn man ihm etwas Zeit gibt und die oberflächliche Verblüffung über die extravaganten Songs verfliegen lässt. Wie heißt es noch so schön? "Das Leben ist zu kurz, um was nicht zu wagen", nicht wahr? Ein Album, über das man reden wird und das mit jedem Durchgang wächst.



Bewertung: 4.0 / 5.0
Autor: Lord Seriousface (04.12.2023)

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